
Bradford-Katastrophe 1985 : „Zwei Männer blieben einfach sitzen und verbrannten“

Am 11. Mai 1985 stand die älteste der Tribünen in Bradford in Flammen, die Zuschauer flüchteten aufs Feld
Autorin: Antonia Kleikamp
Der englische Fußball hat viele Stadion-Katastrophen erlebt. Eine davon 1985 in Bradford. Als eine Tribüne Feuer fing, sahen die Menschen im ganzen Land die Bilder. Vierzig Jahre später schockieren und bewegen die Ereignisse des 11. Mai noch immer viele Menschen ...
So klein die Ursache, so groß ihre Wirkung: Eigentlich hatte der ältere Besucher aus Australien lediglich eine Zigarette rauchen wollen. Mit seinem Sohn schaute er ein Fußballspiel an, in Bradford, einer Industriestadt in West Yorkshire. Kurz vor dem Ende der ersten Halbzeit zündete er sie sich an, legte sie dann zu seinen Füßen, wo sie brennend durch ein Loch unter die Tribüne fiel. „Eine Minute später sah er eine kleine Rauchwolke und schüttete seinen Kaffee darüber“, erinnerte sich John Helm, an diesem Tag für einen regionalen Fernsehsender das Spiel kommentierte: „Sein Sohn tat es ihm gleich. Damit schien das Feuer gelöscht.“ Doch noch einmal eine Minute später qualmte es stärker. Die beiden standen auf und informierten einen Stadion-Angestellten – aber als sie zurückkamen, war die Katastrophe bereits in vollem Gange.
Der 11. Mai 1985 war der letzte Punktspieltag der laufenden Fußballsaison. In der dritten englischen Liga traten der Bradford City A.F.C. als Heimmannschaft und Lincoln City gegeneinander an; Anpfiff war, leicht verspätet, um 15.44 Uhr. In den folgenden 40 Minuten fiel vor rund 12.000 Zuschauern kein Tor. Alles wartete auf den Pfiff des Schiedsrichters zur Pause. Bedeutsam war das Spiel ohnehin nicht, denn Bradford stand bereits als Aufsteiger fest.
Auch Tony Delahunty berichtete live aus dem Stadion, für den lokalen Sender Pennine Radio. Routine – bis er um 15.44 Uhr den Rauch unter der alten Tribüne bemerkte. Das Feuer breitete sich rasch aus, wie er aus seiner Perspektive sehen konnte. Delahunty schrie ins Mikrofon: „Holt die Leute da raus! Passt auf die Kinder auf! Von überall kommt Rauch.“ Dann teilte er seinem Publikum mit: „Wir werden die Übertragung kurzfristig abbrechen müssen.“ Und schaltete ab.

Ein Polizist läuft an der brennenden Tribüne im Valley Parade-Fußballstadion vorbei
Im Fernsehen liefen die Live-Bilder weiter. Ungezählte Menschen sahen an ihren heimischen Bildschirmen oder in Pubs, wie die Fußballfans im Stadion versuchten, von der brennenden Tribüne auf das Spielfeld zu entkommen. Innerhalb von vier Minuten ging die 77 Jahre alte Konstruktion aus viel Holz, von starkem Wind angefacht, in Flammen auf. Rund 3500 Besucher, unter ihnen viele Kinder, hatten auf der 80 Meter breiten Tribüne gesessen, über der auf Metallträgern ein Regenschutz aus geteerter Pappe lag.
Der Lehrer Alan Hargrave sah das Desaster: „Es war unmöglich, 3500 Menschen von der Tribüne in Sicherheit zu bringen“. Dafür war das Feuer viel zu stark. Er sah schreckliche Szenen; eine davon erzählte er noch am selben Nachmittag gegenüber Journalisten: „Zwei Männer blieben einfach auf ihren Plastikschalensitzen sitzen und verbrannten.“
Während Teile des brennenden Tribünendachs auf die Stadionbesucher herabstürzten, kletterten andere Zuschauer über eine brusthohe Mauer am Spielfeldrand. „Ältere Menschen, die allein die Mauer nicht überwinden konnten, wurden hinübergeworfen“, berichtete der Augenzeuge Malcolm Hainsworth: „Wir standen auf der anderen Seite und fingen sie auf. Die Hitze war unvorstellbar.“
Die Kleidung mancher Zuschauer hatte Feuer gefangen – sie taumelten nun wie lebende Fackeln über das Spielfeld. Helfer warfen sie hin und wälzten sie auf dem Rasen, um die Flammen an ihren Körpern zu ersticken. Peter Jackson, der Kapitän des Bradford City A.F.C., rannte in Spielkleidung auf die alte Tribüne, um seine Frau und seine Kinder zu retten.

Der Brand auf der Tribüne kostete 56 Menschen das Leben, 200 Menschen wurden verletzt
„Plötzlich schossen die Flammen unter unseren Füßen entlang“, erinnerte sich Geoffrey Mitchell, der mit seinem 17-jährigen Nachwuchs auf der Tribüne gestanden hatte. „,Vater, wo bist du?’, schrie mein Sohn. Dann riss mich die Menge zu einem Notausgang mit.“ Dessen Tür war jedoch mit einem Vorhängeschloss versperrt. Zwei kräftige Männer stemmten sich mit ihrem ganzen Gewicht dagegen und brachen so den Ausgang auf: „Sonst wären wir alle umgekommen“, erzählte Mitchell: „Meinen Sohn sah ich erst auf dem Spielfeld wieder.“
Es sei nicht ungewöhnlich, dass die Türen verschlossen würden, teilte Stafford Heginbotham mit, Präsident von Bradford City: „Sonst würden sich die Leute reinmogeln.“ Wenn es einen Zaun um das Spielfeld gegeben hätte, wie in vielen anderen Stadien in Großbritannien seinerzeit, wäre die Katastrophe noch viel größer gewesen, erklärte Vizepräsident Jack Tordorff.
Als die Feuerwehr von Bradford und alle verfügbaren Ambulanzen eintrafen, war das Holz der Tribüne schon weitgehend niedergebrannt. Die Krankenschwester Patricia Jackson, die eigentlich an diesem Wochenende frei hatte, war auf die Nachricht von dem Unglück sofort ins Krankenhaus gekommen. Sie erlebte die Zustände dort: „Auf unserem Flur drängten sich etwa 150 Mütter, Väter und andere Familienangehörige, die ihre Kinder und Verwandten suchten. Wir haben ihnen die Namen unserer Patienten vorgelesen.“ Wer einen Namen kannte, durfte mitkommen. Als die Gruppe immer kleiner wurde, merkten alle: „Das waren die Eltern der Kinder, die verbrannt sind. Es war furchtbar.“

Das neue Bradford-Stadion
56 Menschen kamen bei dem Brand ums Leben, 54 Anhänger von Bradford City und zwei Lincoln-Fans. Die Leichen zweier älterer Menschen wurden bei den Aufräumungsarbeiten auf ihren Plätzen sitzend gefunden – es waren wohl jene, die Alan Hargrave gesehen hatte. Bei den Toten handelte es sich um elf Jugendliche und 45 Erwachsene, davon 23 Rentner; das älteste Opfer war ein ehemaliger Vorsitzende des Clubs mit 86 Jahren. Mindestens 265 Besucher wurden verletzt.
Die Untersuchung der Katastrophe ergab, dass der Verein vor der Brandgefahr durch den seit Jahren unter der Tribüne angesammelten Müll gewarnt worden war. Tatsächlich hätte die alte Konstruktion bald nach Saisonende abgerissen werden sollen – für die zweite britische Liga galten höhere Anforderungen an Stadien.
Die meisten Einwohner Bradfords empfanden den Brand als tragisches Unglück: eine weggeworfene Zigarette, eine baufällige Holztribüne, die nur noch stand, weil dem Verein lange der Antrieb für einen Neubau gefehlt hatte, sowie nicht weggeräumter Müll. Man hätte die Vorgeschichte der bis dahin schlimmsten Katastrophe in der britischen Fußballgeschichte jedoch auch anders erzählen können: als Abfolge von Pflichtversäumnissen. 1989 starben bei einer weiteren Stadiontragödie in Sheffield sogar 96 Menschen.
Eine Frau, die vier Angehörige verloren hatte, strengte eine Musterklage an. Knapp zwei Jahre später entschied das zuständige Gericht, dass den Club zwei Drittel der Schuld träfen und die politisch Verantwortlichen des Landkreises Bradford ein Drittel. Im Ergebnis wurde insgesamt 154 Hinterbliebenen und Überlebenden eine Gesamtsumme von bis zu 20 Millionen Pfund Entschädigung zugesprochen, zusätzlich zu einem Härtefonds von fast vier Millionen Pfund.
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Der Selfmademan Stafford Heginbotham trat nach der Katastrophe von seinem Amt zurück, kehrte aber 1987/88 noch einmal in die Funktion des Präsidenten zurück. Als der „Daily Mirror“ fünf ungeklärte Brände in Immobilien auflistete, die Heginbotham gehörten oder in Zusammenhang mit ihm standen, drohte der Geschäftsmann mit Klage. Tatsächlich konnte nie ein überzeugender Beweis gegen ihn vorgelegt werden. Er zog sich in das Steuerparadies Jersey zurück und starb 1995 an den Folgen einer Herzoperation im Alter von 61 Jahren. 2016 lehnte die IPCC, eine britische unabhängige Untersuchungskommission neben dem normalen Rechtsweg, die Wiederaufnahme des Verfahrens über die Brandkatastrophe in Bradford ab. Seit 1986 gibt es eine neue Tribüne im Stadion Valley Parade.